Nico

Ich bin mir sehr sicher, dass das Folgende weder voll­stän­dig noch rich­tig ist. Es gibt recht unter­schied­li­che Berichte und Darstel­lun­gen von Nicos Leben, nicht selten von ihr selbst verur­sacht, weil sie gerne in Phan­ta­sien ausufernd flun­kerte.

Was geht mich Nico an? Ich bin beein­druckt von ihrem Gesang und staune, wie weit vor der Zeit sie neue Musik kreierte. Sie wurde ja in Deutsch­land nicht berühmt. Erst nach­dem David Bowie auf die Frage nach für ihn wich­tige Musik auf Nico hinwies, fragte man sich hier, wer war sie? Das wird sehr gut in einem 5‑minütigen Video des Biogra­phen Tobias Lehm­kuhl gezeigt: 

Die Fami­li­en­ge­schichte ist komple­xer und konflikt­vol­ler als im Video darge­stellt. Sie ist geprägt von dem für manchen schreck­li­chem Deutsch­land des vori­gen Jahr­hun­derts, NS, Bigot­te­rie und allein gelas­se­nen Frauen. Nicos Mutter Marga­rete Schulz heira­tete Wilhelm aus der Braue­rei­fa­mi­lie Päff­gen (Päff­gen-Kölsch); 1938 gebar sie ihr einzi­ges Kind, die Toch­ter Chri­sta (Nico). Nach Kriegs­be­ginn wurde Wilhelm einge­zo­gen und kehrte nicht heim, es wurde gemun­kelt: er sei nicht mehr zu seiner Fami­lie zurück­ge­kehrt, ein Bruder war SS-Sturm­bann­füh­rer und Gestapo-Chef, und habe ein neues Leben begon­nen oder er sei wohl wegen Zusam­men­ar­beit mit jüdi­schen Parti­sa­nen erschos­sen worden. “Im Deutsch­land der Nach­kriegs­zeit gilt das nicht als Helden­tat, sondern als Schande und so lernte die junge Chri­sta dieses Land, zu dem sie ihr Leben lang eine Hass-Liebe verbin­den sollte, als einen Ort des Verschwei­gens, Zurechtlügens und Verdrängens kennen”, so der Biograph Bern­hard Torsch in der Wiener Zeitung.

Die verwit­wete, nicht stan­des­ge­mäße Mutter erfuhr keine Unter­stüt­zung seitens der väter­li­chen Fami­lie und zog mit Chri­sta zu ihren Verwand­ten über Berlin nach Lübbenau in der DDR. Nach Kriegs­ende fand sie eine Anstel­lung als Schnei­de­rin im West-Berli­ner KaDeWe. Chri­sta wurde, hoch­ge­wach­sen, als Vorführ­dame bei den betuch­ten Kunden einge­setzt. Mit 14 verließ sie die Schule, sie habe “keine Lust auf gleich­ge­schal­tete Wissens­ver­mitt­lung”. Anläss­lich einer Mode­schau wurde sie vor der Tür des gerade wieder neu eröff­ne­ten KaDeWe von dem Photo­gra­phen Herbert Tobias entdeckt, der Mode-Desi­gner Heinz Oester­gaard vermit­telte inter­na­tio­nale Aufträge und empfahl ihr den Künst­ler­na­men Nico, den Vorna­men seines Freun­des Nikos Papa­ta­kis. Nico wurde schnell eine der erfolg­reich­sten Models, hierzu gibt es eine auch zeit­ge­schicht­lich inter­es­sante Samm­lung von Fotos.

Dies war dann der Beginn ihrer Karriere, zunächst Stati­stin in Filmen und dann eine ganz unge­wöhn­li­che Rolle, sie sollte in Felli­nisLa dolce Vita” sich selbst spie­len. Sie ging anschlie­ßend nach New York, nahm Schau­spiel­un­ter­richt und kam mit der Musik­welt in Kontakt. Dort begeg­nete sie Andy Whar­hol, in dessen Factory sie ein Super­star wurde, und für sie wurde eine Band gesucht. Mit der von Lou Reed und John Cale gegrün­de­ten “Velvet Under­ground” produ­zierte Andy Whar­hol mit weite­ren Künstler(inne)n aus der Factory deren Debut­al­bum und deren einzi­ges mit Nico: das mitt­ler­weile heute 500 € teure Bana­nen­al­bum (sofern die aufge­klebte Banane noch nicht abge­zo­gen ist).
Schon Anfang der 60er Jahre hatte sie Bob Dylan, Brian Jones und Led Zeppe­lin kennen­ge­lernt und war auf dem Wege zu einer Solo­kar­riere. Die ihr in der Factory nun zuge­schrie­bene Rolle der “Chan­teuse” wollte sie schnell wieder loswer­den und schied aus. Sie war Song­wri­te­rin, nahm sich des Harmo­ni­ums an und managte sich selber. Für diese Scene eine unge­wöhn­lich selbst­stän­dige und selbst­be­stimmte Frau. In ihrem zwei­ten Album The Marble Index, siehe rechte Spalte, stam­men alle Song­texte von ihr.
Auf ihren Alben finden sich eine Viel­zahl von Gästen, begin­nend mit dem damals unbe­kann­ten Leon­hard Cohen. Immer wieder war Joan Cale bis zu ihrem letz­ten Album 1984 ihr Produ­zent. Ein sehr schö­nes Abum ist die life-Aufnahme Le Bata­clan ’72, aus dem das rechts verlinkte Video Femme Fatale ausge­kop­pelt ist. Ende der 70er Jahre begeg­nete sie dem Berli­ner Lüül, auf dessen Debut­al­bum sie Reich der Träume sang und das 20 Jahre später wieder aufge­legt wurde.

Nico hat seit Ende der 50er Jahre Drogen genom­men und mit Beginn der 70er Jahre Heroin. Erst 1985 konnte sie sich zur Substi­tu­tion mit Metha­don durch­rin­gen. Der Drogen­miss­brauch hatte enorme Bedeu­tung für ihre Bezie­hung zu ihrem Sohn Ari.
1962 gebahr Nico ihren Sohn Chri­stian Aaron, Ari genannt. Der Vater Alain Delon leug­nete wegen seiner Bezie­hung zu Romy Schnei­der die Vater­schaft und verwei­gerte auch später einen DNA-Test. So wie Nicos Mutter die Ausgren­zung aus dem rechts­la­sti­gen Groß­bür­ger­tum ihres Mannes erfuhr, ging es nun Nico selber mit dem Vater ihres Sohnes, der schon als Kolo­ni­al­krie­ger in Indo­china Le Pen kennen und schät­zen gelernt hatte.
Auf Grund ihres Lebens­wan­dels war Nico wenig erzie­hungs­fä­hig und Delons Mutter Edith Boulo­gne nahm ihren Enkel­sohn zu sich. Ihr zwei­ter Ehemann adop­tierte ihn und nicht sie, damit der Vater des Kindes nicht der Adop­ti­ons­bru­der wird. Dies führte zu einem lebens­lan­gen Zerwüf­nis mit Alain Delon mit seiner Mutter, der stein­reich auch nicht einen Cent ihnen zukom­men ließ.
17-jährig nahm Ari wieder Kontakt mit Nico auf und zog dann zu ihr auf Ibiza. Anfäng­lich war Nico noch hero­in­süch­tig und fixte den seit eini­gen Jahren drogen­ab­hän­gi­gen Ari an, was ihr viele Vorwürfe einbrachte. Den Tugend­wäch­tern sei Joh. 8,7 in Erin­ne­rung geru­fen, “wer ohne Sünde ist, werfe …”. Ari sagte später: „Sie war eine sehr gute Mutter. Sie hat mir alles gege­ben. Sogar Drogen.“
1988 starb sie bei einem Fahr­rad­un­fall in sengen­der Mittags­hitze an einer Hirn­blu­tung. 18-jährig (!) hatte sie einst für ihre Mutter und sich eine Grab­stelle auf dem Fried­hof Grune­wald-Forst gekauft. Als nun Nicos Urne neben der ihrer Mutter versenkt wurde, spielte Ari: “Liebes klei­nes Mütterlein, nun darf ich endlich bei dir sein, die Sehn­sucht und die Einsam­keit erlösen sich in Seelig­keit.” Ari verstarb 2023 im Alter von 61 Jahren, Le Pari­sien bezeich­nete ihn als “ille­gi­ti­men Sohn Alain Delons”.

Das ist natür­lich eine Geschichte von JetSet, Schön und Reich. Aber es ist eine Gesell­schaft mit dem ihr eige­nen Gewebe, in das wir auch verwo­ben sind. Zwei Bege­ben­hei­ten:

• Gesell­schaf­ten demon­strie­ren ihre Bedeu­tung gerne mit dem Auftritt bedeu­ten­der Dich­ter und Denker (z.B. Sloter­dijk bei der Hoch­zeit des Vize­kanz­lers Lind­ner). Auf der Jahres­ver­samm­lung der (welt­größ­ten) Ameri­ka­ni­schen Psycho­lo­gi­schen Gesell­schaft APA sollte 1968 Andy Whar­hol reden. Er erklärte gleich zu Beginn, dazu keine Lust zu haben, man solle lieber Nico zuhö­ren, star­tete ein Tonband und Student(inn)en verteil­ten Frage­bö­gen unter den Psycholog(inn)en zu deren Geschlechts­le­ben. Nicht wenige verlie­ßen schnell den Saal, am näch­sten Tag titelte die New York Times: Ameri­kas Psycho­lo­gen flie­hen vor Andy Whar­hol.

• 2006 schei­terte die Benen­nung eines Plat­zes in Köln nach Nico wegen „ihres nicht vorbild­li­chen Lebens­wan­dels“ an den Stim­men der CDU.
Im Gegen­satz dazu muss der Lebens­wan­del von Carl Peters wohl vorbild­lich gewe­sen sein, die Plakette an seinem Geburts­haus in Amt Neuhaus hatte die DDR zwar entfernt, schnell wurde sie aber nach der Wieder­ver­ei­ni­gung erneut ange­bracht, über ihn schrieb 1899 der Vorwärts: “… in Erman­ge­lung von Juden drüben in Afrika Neger totschießt wie Spat­zen und zum Vergnü­gen Neger­mäd­chen aufhängt, nach­dem sie seinen Lüsten gedient.”

Velvet Under­ground & Nico

Das Bana­nen­al­bum war ein Flopp. Mit Themen wie Drogen­miss­brauch, Prosti­tu­tion und Sado­ma­so­chis­mus wurde es auch von den Sende­sta­tio­nen geschnit­ten, es landete auf Platz 171 der US-Charts.

Nico konnte nur dies und die beiden folgen­den Lieder auf dem Album singen, weshalb sie dann im Blick auf eine Solo­kar­riere bald dies Ensem­ble verließ.

Der junge und noch völlig unbe­kannte David Bowie erhielt 1966 ein Test Pres­sing des späte­ren Bana­nen­al­bums. Dazu schrieb er in seiner Auto­bio­gra­phie: “Alles, was ich wirk­lich über Rock­mu­sik wissen musste, erschloss sich mir plötz­lich durch eine einzige unver­öf­fent­lichte Platte. […] Mit dem Spaß war es nun offen­sicht­lich vorbei. Das hier war von einer Cool­ness, die ich nie für möglich gehal­ten hatte, es war über­wäl­ti­gend.“
Ähnlich äußerte er sich Mitte der 70er Jahre in Deutsch­land und verhalf damit der bisher dahin nicht beach­te­ten Nico zu einer inter­es­sier­ten Öffent­lich­keit.

Ein kurzes Video zeigt Scenen aus der kurzen gemein­sa­men Zeit mit Velvet Under­ground:

 

Susanne Ofte­rin­ger produ­zierte einen einstün­di­gen Doku­men­tar­film, wohl das schön­ste Zeug­nis über Nico und ein wesent­li­cher Beitrag zur Pop-Geschichte, an dem ihr Sohn Ari Bolougne, dessen Groß­mutter Edith Bolougne sowie John Cale und Lüül mitwirk­ten:

The Marble Index

gilt heute als Meilen­stein der Musik­ge­schichte, der Musik­rich­tun­gen wie Dark Wave, Gothic und Punk, aber auch Ambi­ent vorweg­nahm. Auf Nicos Alben fanden sich zahl­rei­che Gäste wie Brian Eno, der heute als Erfin­der des Ambi­ent gilt, oder Phil Manz­an­era von Roxy Music. Für das Lied Evening of Light drehte sie unter der Regie von Fran­çois De Menil zusam­men mit Iggy Pop und The Stoo­ges das Musik­vi­deo Evening of Light.